>>Das regt einen auf<<

„Sommergäste“ von Maxim Gorki zeichnet eine Gesellschaft, die an nichts mehr interessiert ist außer an sich selbst. Untätig und unbeteiligt wird sie zum Spielball der Geschichte.
Was hat das Stück mit unserer heutigen Zeit zu tun? Wie aktuell ist es? Die Schauspieler Maresi Riegner (Jahrgang 1991) und Martin Schwab (Jahrgang 1937) über das Theater als politischen Ort.
Dass man im Sommerhaus, dort wo man sich ungestört und unbeobachtet fühlt, den Spiegel vorgehalten bekommt, scheint angesichts der Ibiza-Affäre aktueller denn je. In Gorkis „Sommergäste“ ist es „die herrschende Klasse, die glaubt, sie sei mitten im Weltgeschehen drin“, bringt es Schauspieler Martin Schwab auf den Punkt.“ Aber: Die Macht ist ihr längst entglitten. Der gesellschaftliche Umbruch steht am Vorabend der Oktoberrevolution unmittelbar bevor. „Gebildete oder eingebildete Intellektuelle, Schriftsteller, Juristen“ sind es, die sich um die Wette langweilen. Alle reden, aber keiner hat mehr „klare, lebhafte Wünsche“, wie es im Stück heißt.
Orientierungslosigkeit ist etwas, das die ältere Generation gern einmal der jüngeren vorwirft. Maresi Riegner hat sich, bis sie achtzehn Jahre alt war, keine Gedanken gemacht, was sie einmal machen werde. „Dann wollte ich Medizin studieren. Meine Mutter im Stück (eine Ärztin, Anm.) hätte ihre Freude gehabt, meine wirkliche Mutter jedoch war skeptisch. Sie merkte, dass etwas anderes in mir schlummerte.“ Also ging Riegner nach Berlin, begann in einem kleinen Theater zu arbeiten. „Ich hab´ dort alles gemacht.“ Was die eigene Karriere anbelangt, wurde sie also aktiv, setzte einen notwendigen Schritt. Ein krasser Gegensatz zum gesellschaftlichen Gefühl, das man heute mit sich herumtrage, sagt sie. „Genau diese Tatenlosigkeit, dieses Um sich selbst Kreisen nervt. Man kommt über soziale Medien an alle möglichen Informationen, hat zu allem sofort eine Meinung und ist empört.“ Die Empörung aber hielte einen aber davon ab, wirklich aktiv zu werden. Gorkis Stück sei insofern Balsam, „weil ich genau diese Tatenlosigkeit bei mir selbst beobachtet habe“, was natürlich auch unangenehm sei, „weil man den Spiegel vorgehalten kriegt: Genauso wie die damals, so untätig und selbstbezogen, sind wir letztlich auch. Das regt einen auf, weil man sich ertappt fühlt.“ Und die Schuld werde immer bei den anderen gesucht, nie bei einem selbst. „Wenn es innerhalb einer Gesellschaft nicht funktioniert, muss jemand von außen schuld sein“, so die Nestroy-Preisträgerin.
Kann man denn verlernen zu leben, wie im Stück mehrfach behauptet? „Ja!“ Maresi Riegner ist davon überzeugt. „Wenn man verlernt im Moment zu sein, zu genießen und gleichzeitig bescheiden zu sein, Kleinigkeiten zu schätzen wissen.“ Sie selbst zwinge sich deshalb dazu, die kleinen Dinge zu genießen. „Das Lächeln eines Menschen, den Kaffee in der Früh.“
Die größte Offenbarung sei die Stille, ergänzt Schwab. „Die kann nicht befohlen werden. Die kommt aus der Mitte.“ Wenn Menschen nicht mehr dazu kommen, Stille einkehren zu lassen, seien sie verloren.
Würden sich die beiden als politisch bezeichnen? „Nicht im parteipolitischen Sinne“, meint Schwab. Auch wenn er in Deutschland keine Adresse mehr habe, stehe es ihm als Fremdem nicht zu, hier groß zu kritisieren.“ Atmosphärisch sehe das schon anders aus: „Wenn das Rechtslastige so zunimmt, dass es auf die Menschen übergreift, dann würde ich wieder nach Deutschland zurückgehen.“ Und dort? Das Geschrei sei dort vielleicht genauso laut, so Schwab, „aber man hört es nicht so laut, weil das Land größer ist und es besser verhallt“, lacht er.
Seine mehr als fünfzig Jahre jüngere Kollegin begreift das Theater an sich als politischen Ort.
„Wenn man mit bestimmten Menschen an einem bestimmten Thema arbeitet und dahintersteht, in einem Raum einen gemeinsamen Moment erzeugt, ist das etwas Hochpolitisches“, meint Riegner. In dem Moment, in dem man etwas Gemeinsames probiert, schaffe man eine Illusion, eine gemeinsame gesellschaftliche Utopie. Schwab pflichtet ihr bei: „Und man fühlt sich in einen Kreis von Menschen aufgenommen, in den man ohne Theater gar nicht gekommen wäre.“ Menschen wie Daniel Kehlmann meint er, dessen Rede zur Verleihung des Wildgangs-Preises ihm immer noch im Kopf herumspuke. „Künstler, die wie Rilke sagt, spüren, was die Blume spürt“, eine feine Antenne haben.
Die geniale Peter Stein-Inszenierung aus den 1970er Jahren, die es nach wie vor auf DVD zu kaufen gibt, kennen und schätzen beide. „Aber ich glaube nicht, dass man das heute noch so machen kann“, relativiert Schwab. „Die Bühne ist kein Abbild des Lebens.“ Auch auf die Irritation komme es an, wie Thomas Bernhard sagte. „Das Theater ist keine Gefälligkeitsanstalt.“ Das jetzige Theater reagiere dem Burgschauspieler, der von Peymann bis Zadek mit den großen Regisseuren zusammengearbeitet hat, zu wenig politisch auf die aktuellen Gegebenheiten. „Ich hoffe, dass das besser wird.“ Grund zur Hoffnung gibt es, denn: „Viele sind wütend, genauso wie Gorki damals wütend war.“
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