LESEN FORME DEN INNEREN MENSCHEN, HAT DER DEUTSCHE INTELLEKTUELLE ROGER WILLEMSEN EINMAL GESAGT. IN DER WEIHNACHTSZEIT HABEN WIR ENDLICH MEHR ZEIT, UNS DURCH LEKTÜRE FORMEN ZU LASSEN. VIER PROMINENTE LESERINNEN NENNEN UNS JENE BÜCHER, DIE SIE GEFORMT HABEN. BÜCHER, OHNE DIE ES NICHT GEHT.

Zumutbare Wahrheiten

Helga Rabl-Stadler ist seit 1995 Präsidentin der Salzburger Festspiele. Heuer feierte die ehemalige Journalistin, Unternehmerin und Nationalratsabgeordnete ihren 70. Geburtstag. Sie gilt als eine ausgewiesene Leserin. Die vorgestellten Bücher sind solche, die ihr (unter vielen anderen) wichtig sind, sagt sie.

Ingeborg Bachmann: Malina
»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« ist ein notwendigerweise oft zitierter Satz der wunderbaren Ingeborg Bachmann. Ihr Roman »Malina«, eine Art imaginäre, geistige Autobiografie, wird hingegen viel zu wenig gelesen. Für mich war es bei seinem Erscheinen 1971 das absolute Kultbuch und ist nach wie vor eines der schönsten und traurigsten Bücher meines Lebens. Ein ungewöhnlicher Liebesroman, eine einzige Ausdehnung gegen unsere verdammte Vernünftigkeit.

Ernst Lothar: Die Rückkehr
Die Rückkehr, der Roman des Schriftstellers, Kulturfunktionärs und (Festspiel-)Regisseurs Ernst Lothar ist eine federleichte Lektüre über ein schwergewichtiges Thema. »Zerstörter noch als die Gebäude sind die Menschen« resümierte Lothar, als er, der von den Nazis Vertriebene, 1945 aus den USA in eine ihm fremd gewordene Heimat zurückkam. Ein Lese-Muss, vor allem für die mit »der Gnade der späten Geburt«.

Linn Ullmann: Die Unruhigen
»Ich finde das Altwerden eine harte, schwere, wenig glamouröse Arbeit mit sehr langen Arbeitszeiten« konstatierte der schwedische Filmemacher Ingmar Bergman im Gespräch mit Linn Ullmann, seiner Tochter mit Liv Ullmann. Linn Ullmann, hochdekorierte Autorin in Norwegen, hat den Erinnerungen an den Vater und die Mutter in dem Buch »Die Unruhigen« etwas Allgemeingültiges gegeben. Es ist nicht bloß das Leben der Tochter berühmter Eltern (mehr Trauma als Traum), es sind hinreißend erzählte Betrachtungen über das Leben, die Kunst und den Tod.

Flucht und Neuanfang 

Inga Horny war 18 Jahre lang Geschäftsführerin der Altstadt Salzburg Marketing GmbH. In ihrer Amtszeit wurden drei große Festivals etabliert: Jazz & The City, Hand.Kopf.Werk. und Eat & Meet. 2019 bricht sie zu neuen Ufern auf. Lesen ist für sie »die Zeit, in der ich bei mir selbst bin, eine Art Meditation«, sagt sie.

Lilian Faschinger: Die neue Scheherazade
Eine Frau, als Mischling wandernd zwischen den Welten und Normen, zwischen dem Orient und Kärnten, zieht sich auf ihr Sofa zurück und er ndet ein neues, brauchbares Leben zwischen Mythen, Märchen, Sagen und großer Literatur. Der Erstlingsroman der Kärntner Autorin ist ein Werk der frühen 1990er-Jahre und springt mühelos von einem Motiv zum Nächsten. Die so wie das Blatt eines Gingkobaumes leichte Liebe findet ebenso Platz wie die Liedtexte von Tom Waits. Tausenduneine wortgewaltige Geschichten lassen die LeserIn mühelos versinken.

Christian Lorenz Müller: Ziegelbrennen

Die Geschichte dreier Generationen Donauschwaben zwischen Flucht, Neuanfang, Vergessen und Verdrängen bewegt nicht nur Angehörige dieser Familien, die 1944 ihre Heimat Slawonien auf der Flucht vor Titos Partisanen verließen und in Österreich versuchten, eine neue Heimat zu nden. Voll Entbehrungen ist das Leben in der neuen Fremde, in der man trotz der gleichen Sprache fremd bleibt und trotz der räumlichen Nähe nie in die alte Heimat zurückkehrt. Langsam schält der Autor die Geschichte der Familie aus dem Schweigen.

Lion Feuchtwanger: Goya
Ein ganz wunderbarer historischer Roman, ein Spätwerk Feuchtwangers, das er bereits im Exil nach seiner Flucht vor den Nazis schrieb. Ein Portraitmaler, gefangen in den Zwängen eines totalitären Staates, steht im Mittelpunkt der Handlung. Er ist Kritiker des Regimes, aber auch dessen Profiteur. Je kritischer der Maler, Goya, sein Umfeld wahrnimmt, umso näher kommt er seiner einzigartigen Ausdruckskraft. Von Taubheit für das Leben gezeichnet entwirft er die Fratzen der Welt in Karikaturen.

Ausrichtung fürs Leben 

Jessie Kohn ist ein junger austro-amerikanischer Maler und Grafiker. In Salzburg aufgewachsen ging er mit elf Jahren nach Amerika, wo er Visuelle Kunst mit Schwerpunkt Digitale Kunst studierte. Mittlerweile lebt er wieder in Salzburg und präsentiert seine Kunst auf internationaler Basis. Zuletzt etwa entwarf er das Cover für Eric Claptons Album »Happy Xmas«. Lesen, sagt er, helfe ihm dabei, zu sich selbst zu finden.

Matthew Kelly: Resisting Happiness
Matthew Kelly hat eine große Gabe: Er kann direkt zur Seele eines Menschen reden, weil er genau weiß, womit wir Menschen hadern. Das Buch ist eine Art Anleitung zum Glücklichersein und bietet interessante Lösungen dafür, wie jeder einzelne von uns an seinen Lebensschwierigkeiten arbeiten kann. Jedes Kapitel funktioniert wie ein Tagespaket, das man versuchen kann umzusetzen. An jedem Tag kann man sich ein anderes Thema vornehmen. Sehr praktisch ist das.

Viktor Frankl:
Trotzdem Ja zum Leben sagen
Der österreichische Neurologe und Psychiater berichtet in diesem Buch über seine in Konzentrationslagern verbrachte Zeit. Er will kein Mitleid, er klagt nicht an, sondern zeigt, dass man aus jeder Situation – sei sie auch noch so schlimm und aus- sichtslos – etwas Gutes machen kann, weil es selbst an Orten der größten Unmenschlichkeit möglich ist, einen Sinn im Leben zu sehen. Die Hoffnung, die Frankl in dem Buch vermittelt, ist so eindrücklich wie ansteckend. Nachdem man das Buch gelesen hat, kann man nur glücklich und dankbar für sein Leben sein.

Richard Sigmund: Meine Zeit im Himmel

Ein Mann beschreibt sein Nahtod-Erlebnis und bedient sich dafür einer unglaublich bildnerischen Sprache, die mich als Künstler zutiefst anspricht. Das Buch erinnert einen daran, dass es mehr gibt als unser irdisches Leben – etwas Überna- türliches und Unsichtbares, das man, auch wenn man nicht gläubig ist, annehmen kann. Mir hat das Buch dabei geholfen, die Ausrichtung, wofür ich im Leben eigentlich geschaffen bin, zu präzisieren. Wer sein Ziel kennt, kann viel mehr Sinn im Leben spüren.

Außer Rand und Band

Karl Markus Gauß ist Schriftsteller, Essayist und leidenschaftlicher Reisender. Wer etwas über sein Verhältnis zum Lesen erfahren will, sollte ihn in seiner Salzburger Wohnung besuchen. Dort nämlich leben außer ihm und seiner Frau mehr als 12.000 Bücher.

Kurt Held: Die Rote Zora und ihre Bande
Kaum ein Buch hat größeren Eindruck auf mich gemacht als dieser spannende und ergreifende Jugendroman, den der Flüchtling Kurt Held 1941 in seinem Schweizer Exil veröffentlichte. Ich war zwölf, als ich der Roten Zora, diesem tapferen und empfindsamen Mädchen, in der Stadtbücherei begegnete und mich sofort in sie verliebte. Ein wohlbehütetes Salzburger Kind, zögerte ich nicht, mich begeistert ihrer Bande dalmatinischer Straßenkinder anzuschließen.

Ödön von Horváth: Der ewige Spießer
Herr Kobler hat Liebeskummer, beru iche Sorgen, ökono- mische Probleme – und das ist der Rahmen, in dem er sich die Welt erklärt. Die Mittelschicht gerät in Bedrängnis – und deswegen außer Rand und Band. Weil ihre Lage unsicher geworden ist, wird sie mit reinem Gewissen die Demokratie zerstören und dem starken Mann zujubeln. 1930 fertiggestellt, ist dieser Roman des großen österreichischen Autors Ödön von Horváth wie für heute geschrieben.

Ngugi wa Thiong’o: Herr der Krähen
In der modernen Literatur geht es bekanntlich meist ernst, sehr ernst, todernst zu. Bei dem kenianischen Autor und seinem monumentalen Roman über einen afrikanischen Despoten ist das anders, muss man die Lektüre doch mitunter unterbrechen, um schallend zu lachen. Die Leute in den wohlhabenden Ländern haben das Lachen verlernt, bei diesem Autor aus Afrika, der die moderne Literatur des Westens grandios mit der oralen Tradition seiner Heimat zu verbinden weiß, könnten sie es wieder lernen.

Wislawa Szymborska:
Glückliche Liebe und andere Gedichte
Die 2012 verstorbene Dichterin aus Polen hat über die großen Fragen der Menschheit und die unscheinbaren Dinge des Alltags geschrieben: in Gedichten, die hochartifiziell, aber selbst ungeübten Lesern unmittelbar zugänglich sind. Ich denke mir ja oft, würde jeder auf Erden täglich ein Gedicht lesen, stünde es besser mit uns. Und wer sich von Wilslawas Szymborska durchs Jahr begleiten lässt, hat ohnedies mehr vom Leben.