Marianne Crebassa – »Ich brauche Inspiration. Täglich.«

Wenn Marianne Crebassa den Raum betritt, umweht einen augenblicklich ein Hauch von Hollywood. Sie ist glamourös. Sie ist inspirierend. Und genau das ist es auch, was sie sucht: Inspiration. In Salzburg singt die französische Mezzosopranistin heuer den Sesto in Mozarts »La Clemenca di Tito«. Für sie eine Premiere, für uns die Gelegenheit, mit ihr zu plaudern. Über Frauen in Männerkleidern, Täter als Opfer und das Gefühl, ohne jeden Sinn zu sein.
»Wenn man voll der Musik ist, findet man schon die richtige Farbe.«
› Letzten Oktober haben Sie Ihr hochgelobtes Debut-Album »Oh, Boy« veröffentlicht. Darauf schlüpfen Sie in die verschiedensten Hosenrollen. Wie kam es zu diesem »Best Of«?
Ich habe mit diesen Rollen begonnen, und ich liebe es, diese Rollen zu spielen und zu singen. Ich fühle mich Mozart und vor allem Cherubino und Sesto sehr nahe. Für mich als Französin lag es aber nahe, diese bekannten Mozart-Rollen mit Raritäten aus dem französischen Repertoire zu ergänzen, die kaum jemand kennt wie etwa »Psyché« von Ambros Thomas oder die Oper »Mozart« von Reynaldo Hahn.
› Weshalb fühlen Sie sich den Hosenrollen so zugetan?
Ich mag diese Doppeldeutigkeit. Als Frau auf der Bühne zu sein, um einen Mann zu spielen – das ist sehr speziell.
› Nun sind die Rollen einander in manchen Belangen ähnlich, dann aber unterscheiden sie sich doch erheblich voneinander. Was macht die Rolle des Sesto so speziell für Sie?
Er ist sensibler und zerbrechlicher. Ich nehme ihn sehr stark als Opfer wahr. So in Liebe zu entbrennen, macht einen sehr abhängig und auch verletzlich. Es ist beängstigend, wie sehr er Vitellia liebt und wozu er letztlich fähig ist. Im Grunde ist er ja ein guter Mann. Vitellia weiß das, und Titus weiß das.
› Und doch wird er zum Verräter und Attentäter. Wie legt man eine so vielschichtige Rolle an?
Das ist die Challenge. Es fängt schon mit der Stimme an. Wenn man diese Rollen als Frau mit einer Frauenstimme singt – früher wurden sie ja von Kastraten gesungen –, entsteht diese wunderbare Ambiguität im Charakter: Da ist das weiblich Weiche, aber auch heldenhaft Männliche, das Rücksichtlose. Um den verschiedenen Farben zu gerecht zu werden, muss man die verschiedenen Farben auch zeigen. In der ersten Arie etwa gibt es viele unterschiedliche Geschwindigkeiten, von langsam bis heroisch ungestüm. Aber auch von meinem Verhalten her muss ich ganz unterschiedliche Schattierungen zeigen. Zwischen der Verletzlichkeit und der Entschlossenheit hin- und herzuspringen und diesen Sinneswandel auch glaubhaft zu machen – das ist eine wirkliche Herausforderung. Aber die Musik hilft enorm. Die steigert sich auch vom Getragenen hin zum Feuerwerk. Wenn man voll der Musik ist, findet man schon die richtige Farbe.
› Regisseur Peter Sellars versteht La Clemenca als hochpolitischen Akt, in dem die Fragen, wie man darauf reagiert, wenn man »under attack« ist und wer die Leute sind, die einen attackieren, gestellt werden. Sie sind Französin. Frankreich war Ziel mehrerer Terror-Attacken. Wird das Ihr Spiel in einer so politischen Leseart beeinflussen?
Ich weiß es noch nicht, aber vielleicht, ja, vielleicht wird es mein Spiel beeinflussen. Ich glaube, es ist die richtige Zeit, um darüber zu reden, auch in dieser Oper. Die Anschläge haben unser aller Leben beeinflusst, und auf eine gewisse Art und Weise schleppt man das täglich mit sich herum. Das ist aber nicht nur in Paris so, sondern auch in London und eigentlich an allen Orten. Selbstverständlich bin ich also wie jeder andere Europäer auch betroffen. Die Welt ist betroffen. Ich hoffe, dass diese Betroffenheit das Team, die Besetzung rund um diese Fragen wird zusammenrücken lassen. Und: Ich bin ziemlich sicher, dass es so sein wird.
› Nun haben Sie Sesto als sensiblen Menschen gezeichnet, als Opfer. Dennoch ist er es, der auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt und zur Tat schreitet. Wie passt das zusammen?
Wie sich beides in einer Person vereinen lässt, ist, denke ich, eine hochkomplexe psychologische Angelegenheit. Aber: Die Leute, die uns attackieren, fühlen sich auch als Opfer und sie fühlen sich auch schwach gegenüber der Gesellschaft, die sie attackierten. Sie haben keine Bezugspunkte mehr, den Kontakt zu Familie und Freunden verloren. Zumindest wäre es für mich mit aufrechten Kontakten nicht möglich, etwas derartiges zu tun. Das ist im Falle Sestos natürlich interessant: Er hat Familie, er hat Freunde. Was also bringt ihn so weit, es dennoch zu tun?
› Ja, was?
Er wird manipuliert. Er ist hypersensibel und zugleich leicht beeinflussbar, weil er vertraut. Er weiß zwar, was Gut und was Böse ist, ist aber zu nett, um sich abzugrenzen und klar »Ja« oder »Nein« zu sagen.
› Klingt, als wäre Ihnen das vertraut.
Nein, aber ich kann gut nachvollziehen, wie es ist, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden und nicht mehr denken zu können. Bei mir ging das bis hin zu physischen Schmerzen. Aber ich habe gelernt, wie man damit umgeht. Mit der Zeit lernt man auch, dass das Phasen sind, die vorübergehen. Für Sesto ist das vielleicht ein Grund, weshalb er schlechte Entscheidungen trifft: Weil er zu instinktiv und sensibel ist.
› Das zentrale Thema ist »La Clemenca«. Tito vergibt Sesto. Wie sehen Sie diesen Akt der »Vergebung«?
Es geht meiner Ansicht nach nicht nur darum, jemandem anderen zu vergeben, sondern auch sich selbst. Das Schlimmste ist doch für Sesto, damit weiterzuleben.
› Ein Journalist, der seine Frau bei den Anschlägen von Paris seine Frau verlor, hat einen Brief geschrieben, der später zum Buch mit dem Titel »Meinen Hass bekommt ihr nicht« wurde – auch eine fast unbegreifliche Großzügigkeit. Sehen Sie, was die Dimension des Vergebens anbelangt, Parallelen zu »la Clemenca«?
Dass Tito Sesto vergibt, ist keine so große Überraschung. Es gibt immer Hoffnung und es gibt auch diese kleinen Hinweise. Im Falle dieses Journalisten ist es mehr. Jemandem zu vergeben, den man nicht kennt, ist etwas unfassbar Starkes. Es ist weniger die Liebe gegenüber einem speziellen Menschen als vielmehr eine tief empfundene Liebe gegenüber dem Leben.
› Sesto ist eine vielschichtige Person. Wenn Sie ihn dennoch auf einen Gemütszustand reduzieren müssten, welches Gefühl wäre das: Seine Traurigkeit?
Es ist mehr als Traurigkeit. Er glaubt, nie wieder glücklich sein zu können. Es ist also eher das Wissen darum, seinen Weg verloren und keine Ahnung mehr zu haben, wohin es geht. Das Gefühl, ohne jeden Sinn zu sein.
› Sind Sie jemand, der sich viele andere Interpretationen der Rolle anhört, die Sie gerade spielen, oder konzentrieren Sie sich ganz auf sich und empfinden das, was andere machen, als Ihrer Konzentration eher hinderlich?
Eher letzteres. Ich gehe meinen ganz eigenen Weg. Ich höre eher aus allgemeinem Interesse oder ganz speziell, wenn ich schauen möchte, wie andere ein spezifisch technisches Problem lösen. Aber ich recherchiere viel und gerne.
› Sie lesen also mehr als Sie hören?
Ja, und ich beschäftige mich viel mit Situationen. Ich beobachte, gehe in Ausstellungen, schaue mir Filme an und versuche daraus zu lernen und Situatives für meine Kunst abzuleiten. Ich brauche Inspiration. Täglich.
› Was hat Sie in der letzten Zeit künstlerisch so bewegt hat, dass es vielleicht in Ihre Sesto-Interpretation einfließen wird?
Letzte Woche war ich in Wien und hab mir dort die Egon Schiele-Ausstellung in der Albertina angesehen. Egon Schiele hat sich immer als einen ausgemergelten, von Krankheit und Leid gezeichneten Menschen gemalt. Das kann man schon verwenden, um eine gequälte Seele wie Sesto darzustellen.
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