Die litauische Sopranistin Aušrine Stundyte singt die Judith in »Herzog Blaubarts Burg«. Mit Vision.Salzburg sprach sie über abgestumpfte Routine in der Beziehung und die ultimative Liebe.

≈ Wie würden Sie Judith beschreiben? Wie sieht es in den Abgründen ihrer Seele aus?

Judiths Charakter und die Beweggründe, mit Blaubart eine Beziehung einzugehen und sie zu vertiefen, unterscheiden sich von Inszenierung zu Inszenierung. Das ist das Schöne an dieser Oper, dass sie sehr viele Möglichkeiten für unterschiedliche Interpretationen anbietet. Eine Judith, die ich sang, war eine verzweifelte Frau in einer langjährigen Ehe, die die abgestumpfte Routine endlich einmal durchbrechen und alte Probleme, die all die Jahre unter den Teppich gefegt wurden, ans Tageslicht bringen wollte. Sie war kompromisslos und durch ihre Bereitschaft gestärkt, die Beziehung endlich zu beenden, wenn sich nichts weiter ändert. In einer anderen Inszenierung war Judith eher das Opfer: eine naive, neugierige Braut, die gerne nach dem Liebesakt kuscheln und plaudern möchte, und überhaupt nicht vorbereitet ist auf das, was dann auf sie zukommt. Ich glaube, in Salzburg wird wieder eine andere Interpretation im Vordergrund stehen, und ich freue mich auf die »neue« Judith, die wir zum Leben erwecken werden.

»Über das Business gelernt« klingt, als ob sich eine gewisse Ernüchterung breit gemacht hätte?

Man weiß doch eh, was über das Musik- Business gesprochen wird. Jeder kennt eine Menge Anekdoten. Man befürchtet deshalb schon vorher einiges, und dann ist es tatsächlich noch schlimmer als man glaubte. Aber auch besser.

≈ Wie nahe fühlen Sie sich ihr?

Die erwachsene, reife, zu einer tiefen und wahren Verbindung strebende Judith ist mir am nächsten. Wie sie, will auch ich meinen Partner ganz und voll kennen und verstehen, auch das Dunkle und scheinbar Schamhafte. Alles, was man am liebsten von der Welt und sogar vor sich selbst zu verstecken versucht, will ich umarmen. Und dasselbe erhoffe ich von meinem Gegenüber. Das »naive Opfer« ist weniger interessant für mich.

Wie ohnmächtig ist man als Frau in einer heute sogenannten toxi- schen Beziehung? Was tun, wenn die Fassade fällt?

Heute ist man als Frau genauso frei, zu gehen wie ein Mann. Die Beziehung besteht aus zwei Menschen, und die Dynamik darin ist weniger vom Geschlecht und mehr von Persönlichkeit bestimmt. Ich habe in meiner Beobachtung von Beziehungen sehr oft gerade die Männer als »Opfer« erlebt, und die Frauen als »Täter«. Mir gefällt dieser Krieg der Geschlechter nicht, der sich gerade zuspitzt. Es gibt für mich keine Frauen und Männer. Es gibt Menschen, Charaktere und Persönlichkeiten. Sie sind schwächer oder stärker, und im Zwischenspiel mit den anderen kommt die eine oder andere Seite zum Vorschein. Das Schwerste, aber auch das Schönste ist es, eine Balance zu finden.

Die Macht der Liebe. Was kann sie, was kann sie nicht überbrücken?

Was ist eigentlich die wahre absolute Liebe? Kann sie jemand wirklich beschreiben? Wenn man annimmt, dass sie nicht die romantische, die besitzergreifende Liebe ist, was ist sie dann? Ich persönlich empfinde die ultimative Liebe als Zulassung und Annahme des Ist-Zustands. Solch eine Liebe kann (fast) alles überbrücken.

Sie haben in Salzburg die Elektra gesungen, die sie selbst als »schwarzen Puma« bezeichnet haben? Wie sehen Sie Judith im Gegensatz zu ihr? Schwach?

Überhaupt nicht schwach. Aber reif und weise. Und sie ist sehr stark aufgrund ihrer Liebe und Empathie. Sie ist nicht so besessen und selbstzerstörerisch wie Elektra. Judith kämpft mit unerläss- licher Liebe und Zärtlichkeit. Das ist ein anderer Weg − aber nicht unbedingt der leichtere.

Vielen Dank für das Gespräch.

Aušrine Stundyte stammt aus Vilnius und studierte Gesang an der Litauischen Musikakademie und an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Sie begann ihre Karriere mit Auftritten an der Oper in Leipzig. 2019 feierte sie als Salome ihr Hausdebüt an der Wiener Staatsoper. 2020 gab sie als Elektra ihr Salzburger-Festspiel-Debüt.

DAS KLEINKÖPFIGE, MISSGÜNSTIGE

Marie-Luise Stockinger spielt in Marieluise Fleißers »Ingolstadt« die Olga, eine Gymnasiastin, die ungewollt schwanger wird. Ein Problem, für das es im Stück keine Lösung gibt. Mit Vision.Salzburg sprach sie über Autonomie und Selbstbehauptung.

≈ Was war Ihr erster Eindruck, als Sie die beiden Ingolstadt-Stücke von Marieluise Fleißer lasen?

Eine bildhafte, brutale Sprache ist das! Eine Sprache, die Welten aufmacht und niederreißt. Alle Figuren kämpfen um Anerkennung ihrer Wirklichkeit, ihrer Glaubenssätze und ihres Erlebens. Und sie haben nur diese Fleißer’sche klauenhafte Sprache, die sich in schiefen Wortbildern, Glaubenssätzen und verkümmerter Emotionalität ihre Berechtigung in der Welt sucht.

≈ Bei manchen Sätzen rinnt es einem eiskalt den Rücken runter.

O ja. Bei »Für mich sind Sie kein Mensch« etwa. Was denn dann? Obwohl man bei Fleißer davon ausgehen kann, dass auch das Menschsein keine Auszeichnung ist.

≈ Sie bekommen den Zugang zum Theater immer über die Literatur, hab ́ ich gelesen?

Stimmt. Bis zu meinem Schauspiel-Studium ging ich eigentlich nie ins Theater, habe aber immer gern gelesen. Das Theater empfand ich irgendwann als verlängerten Arm der Literatur. Die Literatur ist mein Echoraum, mein Gedanken- und Experimentierraum, das Theater das Ausprobieren der Möglichkeiten, die das Leben bieten könnte.

≈ Wie sehen Sie die Olga?

Sie lebt in einer katholischen Kleinstadthölle, wo sich die Menschen belauern, Lust am Bestrafen haben. Wo alles an menschlichen Abgründen vorhanden ist, und die christlichen Werte in der Kirche bleiben. Ihre Familie weiß von ihrer Schwangerschaft, spricht aber von »einer Krankheit«. Die Abtreibung wird ihr gesellschaftlich verwehrt. Sie will nicht zur Gesellschaft dazugehören, aber das heißt nicht, dass sie von ihr in Ruhe gelassen wird. So ist sie in einem qualvollen Zustand gehalten. Das ist es, was mich interessiert. Wo ist die Erlösung? Und der Muttertod. Olga ist mutterlos. Marieluise Fleißer, deren Mutter auch früh gestorben ist, schreibt in ihren Tagebüchern, dass ihre Kinderseele verkümmerte, als ihre Mutter starb, da ihrer Seelennot mit Härte begegnet wurde.

≈ Sagt Ihnen die kleinstädtische Hölle der Stücke etwas?

Das ist doch eines der prägnantesten Themen der österreichischen Literatur: Das Kleinköpfige, Missgünstige, Scheinheilige. Jeder schaut auf den anderen und nicht auf sich selbst.

≈ »Fegefeuer in Ingolstadt« ist ein Stück über Selbstbehauptung. Sie selbst haben Ihren Weg zum Theater auch mal als einen Weg der Selbstbehauptung beschrieben.

Sobald ich den Mund auf der Bühne aufmache, stelle ich eine Behauptung in den Raum. Ein Phantasie-Angebot, wenn man so will. Das hat mich immer fasziniert: dass Leute da mitgehen wollen. Es ist ja ein urkundliches Spiel, dass da befriedigt wird. Und das ich mir nicht nehmen lassen wollte. Das hat bei mir auch ganz schön viel mit Überwindung und Mut zu tun.

≈ War Marieluise Fleißer, denken Sie, eine frühe Feministin?

Ihre Stücke sind voll von jungen Frauen in ungünstigen Umständen, die das Ringen mit der Welt auf sich nehmen wollen. Aber ich denke, ihre Empathie galt beiden Geschlechtern. Ich sehe Sie eher als Anwältin derer, die im Straßengraben liegen, egal ob Mann oder Frau.

Vielen Dank für das Gespräch.

Marie-Luise Stockinger (*27. September 1992) ist eine österreichische Schauspielerin, die ihre Ausbildung am Max Reinhardt Seminar absolvierte. Seit 2015 ist sie Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Daneben ist sie immer wieder auch im Fernsehen zu sehen, etwa als junge Maria Theresia in Robert Dornhelms gleichnamigem ORF-Zweiteiler, oder in der Mini-Serie »Schnee«, die 2023 ins Fernsehen kommt.

TEXT: MARKUS DEISENBERGER / FOTOS: BETRA BARATOVA & MARIA-LUISE STOCKINGER